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Gemeinsam LEBEN lernen

Silvia Aberle besucht die Schule ihrer jüdischen Großmutter



Silvia Aberle (Mitte) mit Stadtarchivar Dr. Heinrich Maulhardt und seiner Mitarbeiterin Lisa Hahn


Eine lebendige Begegnung mit der schicksalhaften Geschichte Villinger Juden erlebten die Schülerinnen und Schüler der Kursstufe 1 sowie der Klassen 10 Ga und 10 Gb der St. Ursula-Schulen. Weil die mittlerweile 98-jährige Margot Bikart der Einladung der Stadt Villingen-Schwenningen an die ehemaligen Bürger jüdischen Glaubens im Jahr 2009 altershalber nicht hatte folgen können, unternahm jetzt ihre Tochter Silvia Aberle einen Besuch in Villingen. Dabei wollte sie auch die Schule kennen lernen, die ihre Großmutter Martha Bikart geb. Bloch in den Jahren 1913/14 besucht hatte.

Die 60-jährige Silvia Aberle ist in Buenos Aires geboren, wohin Martha Bikart mit ihrer Familie 1938 zwangshalber ausgewandert ist, und hat lange dort gelebt. Nach einer mehrjährigen Zwischenstation in Barcelona wohnt sie seit gut elf Jahren in Berlin und arbeitet dort als Psychologin und Musiklehrerin. Die Begegnung mit den Schülern kam durch Vermittlung von Dr. Heinrich Maulhardt, Leiter der städtischen Museen und Archive, und des Geschichtslehrers Heinrich Schidelko zustande.

In einer kurzen Präsentation führte Heinrich Schidelko die Schüler in den historischen Zusammenhang der Familiengeschichte ein:

Martha Bloch, die Großmutter von Silvia Aberle, stammte aus Randegg an der Schweizer Grenze und wuchs in der Villinger Niederen Straße auf. Von ihrem Schulbesuch in St. Ursula blieb im Klassenbuch festgehalten, dass sie gut singen und Klavier spielen konnte. Sie heiratete den Schwenninger Zahnarzt Max Bikart, den Bruder von Luis Bikart, dessen Tochter Ruth später ebenfalls die St. Ursula-Schulen besuchte; diese Verwandte von Silvia Aberle wurde in Auschwitz ermordet, woran eine Gedenktafel im Innenhof von St. Ursula erinnert.

Martha und Max Bikart gelang die Auswanderung nach Argentinien. Deren Tochter Margot, Mutter von Silvia Aberle, erbte offensichtlich das musikalische Talent ihrer Mutter und wurde eine berühmte Klavierspielerin. Silvia Aberle zeigte den Schülern ein Video von Margot Bikart, wie sie noch in hohem Alter Argentinischen Tango spielt. Silvia Aberle berichtete von ihrer Großmutter Martha, dass sie nur Positives über ihre Schulzeit in St. Ursula erzählte. Sie war die einzige Jüdin in ihrer Klasse, was aber 1913/14 nie ein Problem gewesen sei. Der Anfang in Argentinien 1938 jedoch war für ihre Familie hart. Max Bikart konnte nicht als Zahnarzt arbeiten, weil seine Examina in Argentinien nicht anerkannt wurden. Obwohl Tochter Margot zunächst kein Spanisch konnte, ernährte sie als 12-Jährige die ganze Familie mit ihrem Akkordeonspiel im „Café Mozart“.

Im Anschluss berichtete Silvia Aberle auch von ihrer Familie väterlicherseits: Ihr Vater war mit seiner Familie als 16-Jähriger aus Hamburg ausgewandert. Als jugendlicher Jude, der in der Ausbildung zum Kantor an der Synagoge stand, musste er in Hamburg zwangsweise auf der Straße marschieren, wo er öffentlicher Diskriminierung ausgesetzt war. Um dem Nazi-Terror mit Frau und Kindern entgehen zu können, musste Silvia Aberles Großvater eine Wohnung erwerben, die er – ironischerweise – mit der argentinischen Wohnung eines Nazis tauschen konnte.

In Argentinien promovierte ihr Vater in Chemie und wurde Patentanwalt für das Pharmazie-Unternehmen Hoffmann-La Roche (heute Novartis) in Basel. Erst vor wenigen Monaten erhielt sie von ihrem Vater, der heute hochbetagt in einem Seniorenheim lebt, ein Manuskript in Briefform, das er nach 1945 unter dem Titel „Aufbau im Untergang – meine Schulzeit im 3. Reich“ seinem damals neuen Chef überreicht hatte. Es war die Antwort auf ein Buchgeschenk dieses Sohnes eines Nazis („Meine Schulzeit im Dritten Reich – Erinnerungen deutscher Schriftsteller“, herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki), womit die Sprachlosigkeit zwischen den beiden Männern angesichts des Holocausts überwunden werden sollte.

„Darüber müssen wir reden“, hatte Silvia Aberles Vater damals seinem Chef erklärt. Die Sprachlosigkeit und das Darüber-Redenmüssen sind auch die Motive, die Silvia Aberle bis heute spürbar umtreiben. „Wir müssen mit viel Unausgesprochenem leben“, sagte sie zu den Schülern. „Was die Eltern verdrängt haben, hat sie dennoch geprägt und in Gesten, Blicken und tiefer Innerlichkeit an ihre Kinder weitergeben lassen. – Wir leben die Geschichte der Eltern und Großeltern mit.“

Die Großeltern und Eltern hätten wohl große Probleme, über die damalige Zeit zu sprechen, „um die Kinder nicht traurig zu machen.“ Sie selbst sei wahrscheinlich auch deshalb Psychologin geworden, „um zu verstehen“. Jetzt sei sie nach Villingen gekommen, um die Geschichte der Mutter und der Großmutter zu verorten.

Es sei ihr Anliegen zu zeigen, dass man keine Vorwürfe gegen frühere Generationen erheben solle, sondern dass man dafür sorgen müsse, dass das Geschehene sich nicht wiederholt. „Ich bin auch nach Deutschland gekommen“, erklärte sie, „um zu versöhnen. Dass ich das kann, hat mit Villingen zu tun. Meine Mutter und meine Großmutter waren so; sie haben immer Versöhnung gelebt.“

Bei einer kurzen Vorstellung Silvia Aberles im Kollegium der St. Ursula-Schulen bedankte sich Schulleiter Johannes Kaiser für den Besuch. Er schätzte die Begegnung umso mehr, als Silvia Aberle den ursprünglich angekündigten öffentlichen Vortrag abgesagt hatte, den Vortrag bei den Schülerinnen und Schülern aber wahrnahm. Bei einem kurzen Rundgang durch das Kloster freute sie sich über den Besuch der Klosterkirche und war beeindruckt von der Erinnerungsarbeit der schulischen Projektgruppen unter der Leitung des Kollegen Heinrich Schidelko. Sie verabschiedete sich mit den Worten: „Wenn meine Großmutter wüsste, wie sehr man hier an sie denkt, hätte sie sich sehr gefreut.“

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